Im Norden weckte Lucio Dalla Sehnsüchte nach Stränden, Flipperkästen und Motorrollern, im Süden sang er gegen die bleierne Stimmung der Terrorjahre an. Vor zehn Jahren starb der Cantautore in Montreux.
Luzi Bernet, Rom
Es ranken sich viele Legenden um ihn, Geschichten, wahre und erfundene. Und er selbst hat gerne dazu beigetragen, dass man nie so recht wusste, ob das, was über ihn, Lucio Dalla, erzählt wurde, wirklich wahr ist. Aber das hier scheint sich wirklich so zugetragen zu haben, wenn man der vor einem Jahr erschienenen Biografie der beiden Musikkritiker Gino Castaldo und Ernesto Assante glaubt. Es war 1986, Dalla hatte das Bedürfnis nach Meer. Er brauchte Ruhe, Raum und Freiheit, um sich von den Strapazen einer Tournee zu erholen, die ihn in die Vereinigten Staaten geführt hatte.
Mit ein paar Freunden unternahm er eine Bootstour im Golf von Neapel, es war windstill, das Schiff war mit Motorantrieb unterwegs Richtung Capri, da wurde es plötzlich still an Bord: Motorenschaden. Die Segel halfen bei dem herrschenden Wetter nicht weiter. Dalla bat ein paar Freunde im nahen Sorrent um Hilfe, die «Catarro», so der Name seines geliebten Bootes, musste abgeschleppt werden, die Reparatur brauchte einige Tage.
Unmögliche Liebe
Der Cantautore aus Bologna war damals eine Grösse im italienischen Musikgeschäft. Und die Leute von Sorrent mochten ihn ganz besonders, weil er schon in den Sechzigern, noch vor seinen Erfolgen, mit seiner damaligen Jazzband im «Fauno» gespielt hatte, einem angesagten Klub an der Küste. Einer seiner Freunde war Luca Fiorentino, der Eigentümer des Grand Hotel Excelsior Vittoria. Während Dallas Bootsgefährten sich im Städtchen vergnügten, zeigte Fiorentino ihm das Zimmer, in dem Enrico Caruso 1921 zwei Monate lang gelebt hatte.
Caruso war damals schwer krank und musste sich schonen. Aber jeden Abend, zum Sonnenuntergang, liess er sich den Flügel auf die Terrasse tragen und sang seine berühmten Arien und neapolitanische Volkslieder – zur Verzückung der Fischer, die unten in der Marina einstimmten und die Musik aufs Meer hinaustrugen. Und als wäre dies noch nicht genug an südlicher Romantik, verliebte sich der moribunde Tenor in eine junge Frau aus dem Städtchen, der er Gesangsunterricht erteilte – es war eine unmögliche Liebe.
Dalla hörte sich die Geschichten von Fiorentino an, setzte sich hin, schaute aufs Meer – und schrieb, während die Mechaniker sein Boot reparierten, «Caruso», einen seiner grössten Erfolge – ein Lied, das sich millionenfach verkaufte und ihn in der ganzen Welt bekannt machte. Er hat es mit Luciano Pavarotti gesungen und auch mit Pino Daniele, der wie kein anderer den Klang Neapels verkörperte.
Dass der Song im Grunde unglaublich kitschig war, spielte keine Rolle. Dallas Publikum wusste, dass hinter dem ganzen Herzschmerz von «Caruso» ein grosser Ironiker steckte, ein «bugiardo», ein Cantautore mit Schalk und Witz. Dafür liebte und verehrte es ihn.
Als er vor zehn Jahren, am 1.März 2012, in Montreux einen Herzinfarkt erlitt und im Alter von 69 Jahren völlig unerwartet starb, war das ein Schock für seine Fans. Die Abdankung in Bologna, seiner Heimatstadt, geriet zum Ereignis. Aus Lautsprechern ertönten seine grossen Lieder. Und als der Sarg am 4.März, Dallas Geburtstag, zum Dom an der Piazza Maggiore getragen wurde, applaudierten Tausende von Menschen, die zu seinen Ehren gekommen waren und dicht gedrängt beieinanderstanden.
Verführerische Kraft
Zum Gedenken an Lucio Dallas Tod erscheinen dieser Tage in den italienischen Blättern unzählige Artikel, Weggenossen erinnern sich, Kritiker würdigen sein Werk. Und in Bologna wird am 4.März eine grosse Dalla-Ausstellung eröffnet, die später auch in Rom, Neapel und Mailand gezeigt werden soll.
Im Ausland verblasst derweil die Erinnerung an Dalla allmählich. Das Genre des italienischen Liedermachens hat einen schweren Stand heute, nachdem es in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre überall in Europa und auf der Welt gefeiert worden ist und den Vergleich mit der amerikanischen Populärkultur nicht zu scheuen gebraucht hat.
Es war eine richtige Welle, eine geballte Ladung an Italianità, die in jenen Jahren nach Norden drängte. Fabrizio De André, Edoardo Bennato, Francesco Guccini, Francesco De Gregori, Dalla und viele mehr vermittelten ein Lebensgefühl, das Leichtigkeit mit Sozialkritik verband und eine eigentümlich verführerische Kraft hatte. Verstärkt wurde es durch die aufkommenden Privatradios, die dieser Art von Musik den nötigen Raum gaben und sie einem breiten Publikum zugänglich machten. Die Cantautori füllten die grossen Hallen in der Schweiz, und bei jenen, die kein Italienisch verstanden, liess ihr Sound immerhin Erinnerungen an lange Ferien im Süden wach werden – zu einer Zeit, als man noch nicht auf die Malediven jettete.
Reaktion auf die bleiernen Jahre
Was nördlich der Alpen mit Sonne, Meer, Flipperkästen, nächtlichen Eskapaden auf frisierten Rollern und grossen Gefühlen in Verbindung gebracht wurde, hatte in Italien freilich einen ernsten Hintergrund. Die Lieder der Cantautori waren hier auch eine Reaktion auf das bleierne Lebensgefühl, welches das Land damals erfasst hatte. Der Terror der Roten Brigaden, das Attentat auf Aldo Moro, jenes auf den Bahnhof von Bologna, die Reaktion der Behörden – es waren die «anni di piombo», sie fanden ihr Echo in Songs, die von einem besseren Leben erzählten, von Liebe und Zärtlichkeit.
Selbst Dalla, der eigentlich ein eher unpolitischer Musiker und in vielerlei Hinsicht kein typischer Cantautore war, stand mit seiner Musik und seinen Texten mitten in dieser Zeit. «Caro amico ti scrivo» zum Beispiel vermittelt ein präzises Bild jener Tage, als die Gewalt das Leben konditionierte, man zu Hause rumsitzen musste und von einem besseren neuen Jahr träumte, von einem Jahr der «trasformazione», wo an jedem Tag gefeiert wird und dreimal Weihnachten ist.
Wenn Italien sich heute wieder an Dalla erinnert, denkt es auch an jene schweren Jahre zurück, die glücklicherweise überwunden sind. Aber es weiss gleichzeitig um die vielen Rückschläge in der Zeit danach, und es vermisst wehmütig jene spielerische Ironie, mit der Dalla und mit ihm viele seiner Kollegen die Zeitläufe interpretiert haben. «Am Ende», schreibt sein Biograf Castaldo in der «Repubblica», «war er ein Illusionist, ein guter Zauberer mit der Fähigkeit, aufzutauchen und zu verschwinden. Aber als er dann wirklich verschwunden war, hat er eine immense Leere hinterlassen, die uns immer noch zu Tränen rührt.»
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